Leider haben wir Grund zu dem Verdacht, dass es den Autor dieser Reportage gar nicht gibt. Ebenso wenig die darin vorkommenden Personen wie auch das Ereignis, das darin beschrieben wird. Wir werden auch hartnäckig darüber nachdenken, ob der Jammertalbote selber nicht eine bloße Erfindung ist.
Der Kristallkugelleser
Vier Minuten bevor die Kanzlerin mit geröteten Augen, die Silvesternacht hatte ihr zugesetzt, eilig ihr Büro betrat, um in die Zukunft zu blicken, rief ein Geistlicher in einer Berliner Kirche an diesem nebelverhangenen, kalten Morgen die frierenden Gläubigen mit bebender Stimme dazu auf, vertrauensvoll in die Zukunft zu gehen, auch wenn 2019 im Buch Mose gar nicht vorkomme, was zu bösen Vermutungen Anlass gebe oder vielleicht auch nicht, wahrscheinlich aber schon. Es war der erste Januar, ein Dienstag, ein Feiertag. Genau elf Uhr Uhr. Da näherte sich der Kanzlerin, unbemerkt, aus einem der Nebengänge, ein hünenhafter Schatten, seine rechte Hand schnellte nach vorn, griff an Angela Merkel vorbei, die sich kurz erschreckte. Der Hüne riss die Glastüre für sie auf.

Angela Merkel, für Sekunden allein mit dem Schatten, sagte tonlos: „Ach, da sind Sie ja.“
„Wie Sie es gewünscht haben“, antwortete der Schatten.

Der Schatten: Hubertus Stärzlmeier, 2,07 Meter groß, graumeliert, Kinnbart, dritte Zähne, blauer Maßanzug von Smoothies, London, und braune Lederschuhe von Frizzante, Mailand, gerade gut eingetragen, einer der anerkanntesten, manche sagen auch: der umstrittensten Zukunftsforscher der Republik, Professor für Zeitläuftenerkundung an der renommierten privaten Future Reconaissance School im oberbayerischen Bad Kohlgrub, einem Flecken, in dem in diesem Moment gerade eine zerrupfte Möwe auf das gewienerte Teakdeck einer 2,8 Millionen Euro teuren Segeljacht eines bekannten Immobilienmoguls mit Steuerproblemen schiss.

„Kommen wir gleich zur Sache“, bat die Kanzlerin und ließ sich von ihrer Büroleiterin, einer brünetten Mittvierzigerin im gedeckten Chanel-Arbeitsdress, Augentropfen bringen.

„Für Sie auch etwas?“, fragte Merkel?
Stärzelmeier schüttelte schweigend den Kopf und hatte plötzlich das Bild vor Augen, dass ihn in zwei Stunden ein russischer Oligarch im Adlon um Feuer für seine Montecristo No. 4 bitten würde.
„Dann fangen wir gleich mal an“, sagte Merkel. „Wie wird 2019?“
„Hmmmm“, brummte Stärzelmeier. Er drehte seinen Ehering am linken Ringfinger. Er wusste, dass diese Sache, die er gestern Nacht mit der Kollegin aus Wuppertal angefangen hatte, 40, tolle Figur, geschieden, auf dem Sprung zu einer Karriere in China, aber davon wusste sie ja noch nichts, an einem heißen Sommertag enden würde, dem 11. Juli, genau um 14.04 Uhr würde sie ihm sagen, dass er sich verpissen solle.

„Also?“, drängte die Kanzlerin.
„Nun ja“, sagte Stärzelmeier, „vielleicht doch ein Kaffee...“
Die Büroleiterin steckte eine violette Aluminiumkapsel in die Kaffeemaschine, Pure Arabica mit einer Note Kardamom.

„Trump?“, fragte Merkel.
„Ja, sicher, Trump. Der wird noch mehr Ärger machen.“
„Putin?“
„Der auch, ein bisschen weniger, aber auch.“
„Brexit?“
„Ach herrje!“
„EU?“
„Nun ja.“
„Noch mehr Dieselfahrverbote?“
Stärzelmeier hüstelte, drängte etwas Auswurf zurück in seinen Hals, diese verdammte Raucherei würde er auch in diesem Jahr nicht aufgeben können. Vielleicht aber doch wegen der schlanken Schwarzhaarigen, die wird er am 12. Juli, genau um 14.42 Uhr, kennenlernen, in dem Moment, in dem er die Wuppertaler Kollegin wegfahren sehen wird, sie, die Schwarzhaarige, kann Raucheratem nicht ausstehen.
„Die Konjunktur?“
Stärzelmeier war wieder ganz bei der Sache: „Oh ja, ein paar Dellen, aber: ja.“
„Seehofer?“
„Modelleisenbahn.“
„AKK?“
„Mpf“.
„Gut, sie haben mir mit Ihren Prognosen für 2019 fürs erste sehr weitergeholfen.“ Merkel stand auf, blickte durch die hohe Glasfront.
„Nur eine Frage noch: Und ich?“
„2029“, sagte Stärzelmeier.
„Ach“, sagte die Kanzlerin. Sie sehnte sich nach Rindsrouladen.


Nachtrag:
Nach langwierigen Untersuchungen konnte unsere Bildmeisterin Inga das dem Bericht beigefügte Foto (Putin beim Zubereiten von Rindsrouladen für die Kanzlerin) ebenfalls zweifelsfrei als Fälschung identifizieren.
Sicherheitshalber wollten wir deshalb diesen Beitrag lieber mit einer echten Originalzeichnung unseres Künstlers illustrieren. Wolfgang Beltracchi, (der übrigens demnächst in Unterammergau ein Museum für seine kunstvollen Fälschungen erhalten soll) hat uns dazu eidesstattlich versichert, dass es sich bei dieser Grafik NICHT um eins seiner Werke "im Stil von Melchior Schedler" handelt.