Radfahrerschicksal
Der nicht ganz abgeschlossene Kurzroman
1.
Hermann und Dorothea kaufen sich nach ihrem rechtzeitigen Austritt aus dem Berufsleben zwei ultraleichte Mountainbikes. Nach einer kurzen Trainingsphase wagen sie sich auch an anspruchsvollere Touren. Wenn jüngere Radler sie an einer langen Steigung überholen, nehmen sie es gelassen – das ist eben die Natur.
2., zwei Jahre später:
An einer längeren Steigung überholt sie locker ein deutlich übergewichtiger Mann auf einem auch ziemlich gewichtig aussehenden Rad. Vor Staunen kommen sie aus dem Tritt und müssen absteigen. Dorothea vermutet, der Dicke habe eine Art Zaubertrank geschluckt und würde dieses Dopingmittel auch mit sich führen – wozu sei denn sonst dieser längliche Behälter am Gestänge gut?
3., weitere zwei Jahre später:
Hermann und Dorothea haben mittlerweile ihren Irrtum erkannt und erschrecken nicht mehr, wenn eine zittrige Greisenstimme hinter ihnen einen Überholvorgang ankündigt oder wenn eine unangekündigte Überholerin sie fast mit ihren Körperausladungen streift.
Sie freuen sich aber über jeden „normalen“ Radler, der ihnen begegnet, denn selbst wenn dieser schneller ist als sie, hat er trotzdem keine Chance gegen diese E-Biker. Besonders solidarisch fühlen sie sich mit Familiengruppen, denn noch sind keine E-Bikes mit Stützrädern für Kinder auf dem Markt.
Als ein Bekannter von Hermann eine Initiative für das Verbot von E-Bikern auf Radwegen ins Leben rufen will – genau genommen seien diese ja motorisierte Verkehrsteilnehmer – sagen sie ihm ihre Unterstützung zu. Gerne und mit grimmigem Vergnügen lesen sie Zeitungsmeldungen über Unfälle mit E-Bikes, die meistens von Leuten verursacht werden, die sich selten an einem normalen Rad geübt haben und jetzt mit dem schnellen Gerät nicht zurechtkommen.
4., ein halbes Jahr später:
Auf einem Alpenpass an der siebten Kehre bricht Hermann mit Kreislaufproblemen zusammen. E-Biker im Turbo-Modus, aber auch die zähen Sportradler ohne Elektrifizierung ziehen an ihm vorbei, um nicht den Schwung zu verlieren; ein hilfsbereiter Motorradfahrer ruft schließlich den Krankenwagen.
5.,weitere fünf Monate später:
Hermann hat sich von dem Kollaps vollständig erholt. Er und Dorothea wagen sich nun wieder an die länger nicht mehr gemachten anspruchsvollen Touren. Mit den neuen Mountain-E-Bikes ist das kein größeres Problem - bis zu dem Tag an dem sie auf einer längeren Steigung von einem anderen E-Biker rasant überholt werden. Der Radler scheint aber nicht älter als Mitte 20 zu sein und keineswegs übergewichtig!
Dorothea schaut dem Überholer mitleidig nach - das arme Burschi müsse wohl an einem Herzfehler leiden oder gerade eine Wette verloren haben, denn warum sonst solle ein gesunder junger Mensch freiwillig seine Hilfs(motor)bedürftigkeit demonstrieren?
Hermann schweigt nachdenklich. In seinem Kopf formt sich eine neue Verordnung, welche die Nutzung von E-Bikes für Personen unter 60 Jahren und mit Normalgewicht verbietet...

Fortsetzung folgt.