15.12.
Ich habe kein Aspirin mehr im Haus. Lange Schlangen vor der Apotheke bis zum Ende der Straße, ältere Herrschaften, meist gut gekleidet. Natürlich: heute ist der erste Ausgabetag für die kostenlosen FFP2-Masken. Ich brauche aber mein Aspirin, jetzt erst recht. Eine halbe Stunde später im Geschäft: meine freundliche Apothekerin hat Schweißperlen auf der Stirn, so gehe es ununterbrochen seit dem Morgen, man komme nicht mal dazu, einen Schluck zu trinken. Ich überlege kurz, und beim Verlassen der Apotheke setze ich eine düstere Miene auf, zeige leere Hände und rufe laut: „Leute, ihr braucht nicht zu warten, Gratis-Masken sind aus!“ Murrend und schimpfend löst sich die mittlerweile bis zur nächsten Straßenecke angewachsene Schlange auf.
Meine nette Apothekerin kann jetzt mal kurz aufatmen, und ich bin glücklich.

17.12.
Komme ins Gespräch mit dem Mann, der bei Nachbarn den Garten winterfest macht. Ich kenne ihn bedauerlicherweise schon als demonstrierenden Corona-Leugner, aber er gesteht mir, dass er mittlerweile auch den Ernst der Lage einsieht ,und er würde auch, obwohl er ein –natürlich falsches- Attest zur Maskenbefreiung besitzt, wieder eine Mund-Nasenbedeckung tragen, fürchtet aber die Vorwürfe seiner Querdenker-Kameraden. Ich rate ihm, die Gegebenheiten der Jahreszeit zu nutzen und sein Exemplar einfach zu beschriften: „Ich trage das nur wegen Kälte!“
Sein dankbares Lächeln verschafft auch mir einen Glücksmoment. Der sogar anhält, als ich höre, dass er schon am nächsten Tag wegen der Maske von einer Mitstreiterin als Verräter beschimpft und sogar bespuckt wurde. Ob er es nicht geschafft hat, die Schrift gut sichtbar aufzubringen oder ob die mutige Widerstandskämpferin Schwierigkeiten mit dem Lesen komplizierter Sätze hat, konnte ich aber nicht erfahren.

19.12.
Eine alte Klassenkameradin meldet sich wieder und schickt mir einen Aufruf, der schon seit einiger Zeit im Netz kursiert: man soll jetzt unter dem Motto „Lasst hören wie viele wir sind“ jeden Abend um 21 Uhr, zu Beginn der Ausgangssperre, das Fenster öffnen und den sogenannten Gefangenenchor aus der Oper Nabucco hinaus spielen, also das Klagelied der Juden, die sich im Exil in Babylonien zurück ins Heimatland sehnen.
Und so scheint man sich gegenwärtig in Deutschland zu fühlen?
Ich frage zurück, ob man für diese Aktion der gefühlt Weggesperrten das Original oder die arisierte Version von 1940 (mit versklavten Ägyptern anstatt Juden!) nehmen soll, und ob es uns nicht stört, dass auch die neofaschistische Lega Nord gerne mit dem „ Va Pensiero“ musikalischen Missbrauch treibt. Ich bekomme aber keine Antwort.
Als noch eine nette junge Person aus dem entfernten Verwandtenkreis diesen Aufruf verteilt, beschließe ich, mit zu machen. Ich habe kürzlich für teures Geld neue Hochleistungs-Lautsprecher erworben, und wenn ich damit durchs offene Fenster „Spiel mir das Lied vom Tod“ hinaus lasse, kann der Gefangenenchor einpacken. Ich bin glücklich, denn so kann ich ohne erhobenen Zeigefinger der jungen Generation demonstrieren, dass der Kauf von Qualitätsprodukten gut für die Umwelt ist.
21.12.

Ein paar Bekannte finden, ich soll nicht immer Negatives verbreiten und für einige Zeit die Klappe halten. Ich beschließe, auch mal anderen Glücksmomente zu verschaffen und zu schweigen. Und das sogar bis zum Ende des Jahres.

Und vielleicht in kalten Zeiten etwas Wärme anbieten.