Erklärung:
Rosi Hees ist kein Pseudonym von Marina Dietz für Realsatire, sondern eine ganz reale Freundin in Berlin. Und sie ist immer noch im Wahlkampf für eine Partei unterwegs, die, naja, eben die einzige Alternative für Leute ist, die weder grün noch schwarz wählen wollen, und ich rede hier nicht von der FDP. Über die manchmal irrealen Begegnungen bei dieser Aktion führt sie ein Tagebuch, das ich unseren über Bayern hinaus Interessierten mit Erlaubnis der Verfasserin nicht vorenthalten möchte.

Aus dem Alltag einer Wahlkämpferin

6.12.
Heute (leider?) keine besonderen Vorkommnisse, nicht einmal ein verirrter Nikolaus in Sicht.
Die Heilsarmee begleitet uns wieder mit ihren Bläsern. Sie stehen da, wo sonst die Grünen ihren Stand haben. Also hatten die Grünen keine andere Wahl, als sich dicht neben uns aufzubauen.
Ihr Pech, denn ich bin schon geübter, bringe mein Material schneller an die Passanten, die dann das der Grünen ablehnen: „Danke, wir haben doch schon!“
Es heißt ja nicht umsonst: Wahl-Kampf, aber ich will trotzdem nicht unfair sein und helfe später mit: „Nehmen Sie diese Infos doch auch!“ (Wir wollen ja schließlich mal zusammen regieren!)

Auf unserem Werbematerial liegt heute ein kleiner Lebkuchen, wird gerne genommen. Nur ein älterer Mann wehrt ab: „Das nehme ich nicht, nein, ich bin nicht süß!“ Er sagt es aber nicht lächelnd sondern richtig böse, aber warum, bleibt ein Rätsel.

Vielleicht hat er auch nur die gleiche Post bekommen, wie dieser Herr mittleren Alters, der danach unserem Stand entgegen stürmt. Ich will ihm unser Material reichen, aber er schreit: „Sie nicht, nein, Sie wähle ich nicht! Heute kam meine Stromrechnung! Vielen Dank auch!“ Damit dreht er sich um und stürmt weiter. Wir rufen hinterher: „Wir haben einen Hilfsfond eingerichtet für Bedürftige!“ Er dreht sich noch einmal um und schreit: „SIE NICHT!“ Tja. Wo sind unsere Illusionen über rational bestimmtes Wahlverhalten?

Etwas später: ein sympathisch wirkender junger Mann überrascht uns mit der Frage: „Könnt ihr nicht die Steuern senken? Arbeiten lohnt sich für mich nämlich nicht.“ Ich frage dagegen: „Wieso, was machen Sie denn so?“ Er: „Ich bin Lebenskünstler!“
Im weiteren Gespräch kristallisiert sich heraus, er ist einer der vielen IT-Fachleute, die Berlin für ein zweites Silicon Valley halten. Auf keinen Fall will er fest angestellt sein. Einer unserer jungen SPDLer, ebenfalls ein Nerd, hat dann sehr lange mit ihm geredet. Ich weiß nicht, was er ihm geraten hat, ob er ihm aus dem Godesberger Programm vorgelesen oder einen Termin bei Kevin Kühnert versprochen hat, jedenfalls zog der Mann friedlich von dannen. Nebenbei lobte er unseren Lebkuchen. Und bedankt hat er sich auch noch!

Was will man mehr als Wahlkämpferin? Anschließend zufriedenes Glühweintrinken. Und die Schwarzen waren wieder nicht da mit ihrem Stand. Das kann so bleiben.

8.12.
Heute ein Wahlkampftag in schon fast winterlicher Kälte, die im wahrsten Sinn des Wortes an die Nieren geht. Ich habe gelesen: die Organisatoren der Klima-Klebeaktionen empfehlen ihren Aktivisten nicht nur warme Unterwäsche, sondern auch das Anlegen von Windeln, falls es länger dauert. Das ist bei uns erfreulicherweise nicht nötig, denn unser Direktkandidat hat mit einem Cafe um die Ecke vereinbart, dass wir Wahlkämpfer (und vor allem Kämpferinnen) dort die Toilette benutzen dürfen. (Ob das auch für die Grünen oder gar die Schwarzen gilt, weiß ich nicht.)

Viel Besuch von SeniorInnen, die uns sagen: „Wir sind mit Vielem nicht einverstanden, aber wir bleiben der SPD treu!“ Beim letzten Wahlkampf war ihnen aber auch die Forderung nach mehr öffentlichen Toiletten wichtig.

Nebenbei hören wir viel Geschimpfe, nein, nicht über unseren Wumms-Kanzler, sondern über die Grünen. Vielleicht kann uns das ja helfen, da die Stimmung der SPD gegenüber auch nicht gerade gut ist. Es gibt hier in Berlin immer mehr "Fahrrad-Hasser" - eine ältere Frau ruft wütend: „So ein Lastenfahrrad kostet 6ooo Euro, die Fahrradstadt können sich doch nur die Reichen leisten!“

Aber der Clou ist eine alte Dame, die sich als Ur-Berlinerin vorstellt, aber ganz erstaunt fragt, was denn hier los sei, sie hat nämlich nicht mitbekommen, dass in Berlin die Wahl wiederholt werden muss. Wählen will sie trotzdem nicht, nicht einmal uns.

10.12.
Die Heilsarmee-Kapelle begleitet unseren Wahlkampf auch heute. Leider ist es noch kälter als beim letzten Mal. Die Grünen, höre ich, sehnen das Verschwinden der Kapelle herbei. Sie steht nämlich auf ihrem strategisch günstigeren Stammplatz. Merkwürdigerweise fehlen zum dritten Mal die CDU-Wahlkämpfer. Sind die ihrer Sache so sicher? Zufällig treffe ich die Kandidatin fürs Abgeordnetenhaus. Sie ist furchtbar erkältet und berichtet, die Wahlhelfer der Schwarzen liegen alle flach. Wir von SPD und Grünen meinen wohlwollend, die CDUler sollen sich ruhig mal ordentlich auskurieren.

Auch heute sind wieder viele freundliche alte Damen mit Rollator sind unterwegs. Ich darf mein Material bei allen vorne auf den Rollator legen, auf unsere SeniorInnen ist halt Verlaß. Mein Eindruck: die eine Hälfte der Berliner sind Alte, die andere Verrückte.

Nach über zwei Stunden fühle ich mich wie ein Eiszapfen. Auch das heiße Bad zuhause hilft nichts – ich habe mich erkältet. Die Genossen werden mir sicher baldige Genesung wünschen, und vielleicht wünschen mir sogar unsere Grünen alles Gute und empfehlen wohlwollend, ich soll mich ruhig mal ordentlich auskurieren.