Die Verwandlung
Der junge Journalist hatte eine sehr hohe Meinung von seinem Beruf und natürlich auch von sich selbst. Sicher war er nicht der Einzige und auch nicht der Erste, der in Archiven und alten Zeitungen häßliche Geschichten über Professoren, Ärzte und Politiker und ihre Rolle im braunen Deutschland zutage förderte. Dass er diesen arroganten Ordinarius, der natürlich nie in der Partei oder in irgendeiner Kampforganisation gewesen war, doch noch mit Berichten von Zeitzeugen und eindeutigen Fotos aus dem Amt kegeln konnte, war aber schon eine Leistung - auch wenn der alte Mistkerl später noch den Prozess um seine Pensionsansprüche gewann.

Auch den korrupten Bürgermeister, dem er einen Meineid nachwies und dessen Partei daraufhin 10 Jahre lang keinen ihrer Vertreter mehr in dieses Amt bringen konnte, reihte der junge Journalist stolz in seine Trophäensammlung ein. Auch das Foto von 1983 gehörte dazu. Es hing lange über seinem Schreibtisch und es zeigt den Kopf einer der Pershing II Raketen, die von den amerikanischen Freunden klammheimlich auf bundesdeutschem Boden aufgestellt worden waren. Das Beweisbild wurde unter schwierigen Umständen aufgenommen, und die Zeitung, die es veröffentlichte, fing sich prompt eine Klage ein, aber die Öffentlichkeit war jetzt informiert und empört.

In den folgenden Jahren beschäftigten den nicht mehr ganz so jungen Journalisten die problematischen Beziehungen unserer Politiker zur Autoindustrie, den Chemiekonzernen und den Waffenfabrikanten. Untersuchungen zur Verkrustung von Parteistrukturen und Interviews mit Wissenschaftlern zum Klimawandel gaben immer wieder Geschichten her, die seine Zeitung gerne druckte, und die Klagen der Betroffenen verliefen im Sand.

Der nicht mehr ganz junge Journalist hätte jetzt eigentlich zufrieden mit sich und seinem Beruf sein können, wären da nicht diese Träume gewesen. Manchmal sah er sich auf einem vollkommen leeren Platz, mit einer Hundekette um den Hals und dem Auftrag, ständig wachsam zu bellen. In einem anderen Traum will er die Geschichte des Jahres in sein Tablet tippen, hat dafür aber nur 140 Zeichen auf Twitter zur Verfügung!

„Ich glaube, den Politikern geht mittlerweile am Arsch vorbei, was wir über sie schreiben,“ vertraute er beim dritten Bier einem älteren Kollegen an. “Und die jungen Leute lesen sowieso nicht mehr.“
Der Kollege lächelte. „Klar. Weil unsere gescheiten Artikel mit ihrer fucking Sachlichkeit mega langweilig sind. Sagt mein Enkel. Aber ich schick dir einen Hammer-Link, schau da mal rein.“

Was der Journalist dann auch tat. Nach den ersten Minuten wollte er das Video wieder weg klicken, zu sehr nervten ihn das mit fucking und LOL durchsetzte Dauergequassel und die Zappelposen des You-Tubers mit dem blau gefärbten Deckhaar. Aber er widerstand der Versuchung und war froh darüber, denn der Bursche war offensichtlich fleißig gewesen und konnte für seine vernichtende Kritik an der CDU und der Groko auch durchaus seriöse Quellen nennen, Quellen, die der Journalist und seine Kollegen selbst zum Sprudeln gebracht hatten.

„Sehr erfrischend, sogar diese jugendliche Arroganz,“ sagte der Journalist beim nächsten Treffen. „Von der Faktenseite her gäbe es zwar noch einiges zu kritisieren…“
Der ältere Kollege, ein zufriedener Ruheständler, grinste. „Könnte es sein, dass du einfach neidisch bist? Vielleicht haben wir unser Wissen nicht mehr zeitgemäß präsentiert – dieses Video hat jedenfalls eine Partei, die wir beide nicht besonders schätzen, so richtig aufgescheucht und hat gerade bei den Jungen, den künftigen Wählern mehr Aufsehen erregt als wir mit unseren Artikeln geschafft haben.“
„Du willst doch nicht diese 15 Millionen Klicks für einen blauhaarigen Influencer mit unseren LESERN vergleichen, die uns sogar in vollständigen Sätzen und korrektem Deutsch Briefe schreiben?“ empörte sich der Journalist.
Der Kollege kicherte. „Hattest du nicht auch mal blaue Haare, in deiner Zeit bei dieser Punkband? Oder waren sie grün?“
Die Haare waren karottenorange gewesen, wie die von David Bowie, den er damals verehrte, aber darauf ging der Journalist nicht ein.
„LMFAO!“ sagte er.
Jetzt staunte der ältere Kollege.
„Ja, ich hab gegoogelt. Das heißt „Laughing my fucking ass off.“ Gestern Nacht hab ich geträumt, ich müsste wieder DeutschAbi schreiben. „Interpretieren Sie Kafkas Kurzgeschichte „Die Verwandlung“, aber verwenden Sie dafür nur Emoticons“. Ich denke, ich sollte mich aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand verabschieden.“

Der Rentenantrag des Journalisten wurde genehmigt.

Nachtrag:

Eine Nachbarin traf ihn kürzlich im Computerladen am Ort, wo er sich mit dem Betreiber über die Herstellung von Videos fürs Netz unterhielt. Eine andere Bekannte will beobachtet haben, wie er im Drogeriemarkt nach Haartönung in Karottenorange fragte.