Mir reicht`s!
Ich will endlich mal wieder ein bißchen Spaß haben. Dies und das anstellen und vielleicht auch mal wieder auf die Straße gehen, lärmen und dabei gegen die staatliche Willkür kämpfen!

Es muss doch Spaß machen, anarchistisch, ohne Veranstalter und Anmeldung, sich zusammen zu rotten, das Ganze einen Spaziergang nennen, und wenn dann die Polizei auftaucht, einfach wie ein Fliegenschwarm auseinander spritzen und sich, schnell verabredet, an einem anderen Ort wieder einfinden, und so mit diesen „Handlangern eines korrupten Systems“ stundenlang Katz und Maus spielen.
Und das, zumindest bis jetzt und in unserer Region, mit einem geringen Risiko, noch ohne die Gefahr, stundenlang eingekesselt oder mit Wasserwerfern brutal auseinander getrieben zu werden, wie das bei früheren Demonstrationen z.B. gegen Notstandsgesetze, Raketenstationierung, Atommülllagerung, Berufsverbote, Paragraf 218, G7-Konferenzen etc.etc. so üblich war. Vielleicht könnte man sogar den lustigen Spruch „Bullen verpisst euch, niemand vermisst euch“ wieder skandieren, ohne mehr zu riskieren als einen Platzverweis, anstatt 10 Stunden Untersuchungshaft, wie in meinen guten alten Demo-Zeiten.

Ein solcher Spaß hätte allerdings auch seinen Preis.
Ich müsste mit Leuten reden, die allen Ernstes die von meinen Freunden gewählte nette Frau Baerbock (diese nur als Beispiel) für eine heimtückische Räuberin unserer Menschenrechte halten und auch sonst viel Hirnverbranntes von sich geben.
Ich dürfte der jugendlichen Widerstandskämpferin mit dem Plakat „Gestern die Juden, heute die Ungeimpften“ dasselbe nicht aufs Köpfchen hauen, in der Hoffnung, dort einen Nachdenkprozess anzuregen.
Ich dürfte die lieblich lächelnde Heilpraktikerin aus Hindelang (diese nur als Beispiel) nicht warnen, daß der kernige Typ neben ihr mit dem Trachtenhut ( Aluhüte wurden bei uns noch nicht gesichtet) ein bekannter Neonazi ist, der eine standrechtliche Erschießung unserer Politiker zumindest liken würde.
Ich müsste den Gedanken an die Toten verdrängen, die unter anderem auch durch die Ego-Achtsamkeit von Impfgegnern starben.

Dieser Preis für ein nostalgisches Vergnügen scheint mir doch zu hoch. Also wird man mich, wenn überhaupt auf der Straße, bei einer angemeldeten und genehmigten Gegen-Mahnwache, brav mit Maske und Abstand, herum stehen sehen. Wir werden nett mit den Ordnungshütern plaudern, alle Anweisungen befolgen und uns freuen, dass sie uns, die stillen Verteidiger der Demokratie, genauso wenig verprügeln wie die Lauten, die sie delegitimieren wollen.

Ach, dass ich das als Alt-68gerin noch erleben darf!