I bin bled

Mein Doktorvater Christian Enzensberger hat sich in den 1970ger Jahren vorübergehend auch als Kneipenwirt betätigt. In dem Lokal in der Münchner Theresienstraße gab es eine Musikbox, und eine Scheibe wurde von dem akademischen Publikum, Studenten, Schreibende, Lektoren, gerne gewählt.
„Ui schaug, de Leit,
de san alle so gscheit,
de wissen, wia`s geht,
nur i – bin bled.“

Lisa Fitz hat das schön bayerisch krachert gesungen, und gestern habe ich das Lied wieder auf You-tube angehört – mir war so danach.

„Da reden`s über Politik
Und übern nächsten Krieg,
Wia`s am Mond drobn steht,
i woas nix, i bin halt bled.“

Richtig, so fühle ich mich schon seit einiger Zeit auch. Eingekesselt von lauter Leuten, die definitiv Bescheid wissen, im Augenblick besonders über den Krieg in der Ukraine. Gefühlte 10 Millionen Virologen haben blitzschnell umgeschult zu Spezialisten für Kriegsstrategie und Psychopathologie, und erklären jetzt hemmungslos dem Rest der Welt, wie man es machen soll mit diesem Putin. Auf anspruchsvollerer Ebene in der Printmedien, dann in Talkshows, und schließlich aus der Mitte des Volks im Netz (jüngere und mittlere Generation) und mit Leserbriefen, bevorzugt von Rentnern („ ich habe noch den Krieg miterlebt und weiß, wie man…“).

Dumm nur, dass die sicher Wissenden sich völlig entgegengesetzte Vorschläge aus dem Krabbelsack der Informationen heraus geholt und zusammengebastelt haben, da steht nun also das „ Auf keinen Fall provozieren“ unversöhnlich dem „Härte ist das Einzige was hier hilft“ gegenüber.

Aber das ist nicht das eigentliche Problem für mich, sondern dass diese Meinungen (und ich verwende hier absichtlich diesen im Ruch der Beliebigkeit stehenden Begriff) jeweils mit einer solchen betonverstärkten Sicherheit vertreten werden.

Alice Schwarzer begründet ihren offenen Brief an den Bundeskanzler wegen anstehender Lieferung schwerer Waffen damit:
…Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ernsthaft von der Gefahr eines neuen Weltkriegs überzeugt!“
Wow, denkt man, geht’s vielleicht auch etwas kleiner, aber schon muss man Frau Schwarzer wieder in Schutz nehmen gegen das Gezeter derer ( und das nicht nur anonymer Netzhetzer), die ihr vorwerfen, zit: „pseudokulturelle Panikmache zu „orchestrieren“.(Nebenbei eine Schlagzeile, die zu verstehen ich wohl zu bled bin, bearbeitet Frau Schwarzer jetzt eine Komposition für Orchesterbesetzung um, und wenn es eine pseudokulturelle Panikmache gibt, wie schaut dann das Gegenteil, nämlich eine kulturelle aus?) Und da ist dann auch der Vorwurf des Putin-Verstehens und der Schuld an den nächsten Ukraine-Toten gleich zur Hand.

Ich habe es ja auch selber probiert, durch Faktenstudium heraus zu finden, welche Seite wohl Recht hat bzw. was die richtige Strategie sein sollte, um diesen verfluchten Krieg zu beenden, und ob ich jetzt den Bundeskanzler als Feigling oder als vernünftig sehen soll ,oder bei Positionswechsel als endlich einsichtig oder leider umgefallen. Aber mir kam es vor wie der Versuch, ein sicheres Ergebnis mit zu vielen Unbekannten zu errechnen, und ich musste deshalb selbstkritisch zu mir sagen: „ I woas nix, i bin halt bled.“

Das Lied hat mich aber nicht im Stich gelassen – in der letzten Strophe erfreut mich die Kabarettistin mit dem Vorschlag, einen Verein der Bleden zu gründen. Ich würde dazu in der Satzung vorschreiben, dass die Mitglieder als Blede nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht haben, nicht all das besser zu wissen, was erst die Zukunft ausweisen kann.

Zwei Gründungsmitglieder hätte ich schon, mich selbst und meinen Berichtbestatter, weitere Aufnahmeanträge werden wohlwollend bearbeitet.
Und als Schirmherr würde ich , nein, nicht Sokrates, sondern den Philosophen Jürgen Habermas wählen, der es am 29.April in der SZ, Titel „Krieg und Empörung“, fertig gebracht hat, wirklich alle Argumente der Debatte ganz ohne Polemik gegeneinander zu führen, um dann gegen Schluss zu erklären_
„Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden.“

Tja. Ist dieses bescheidene Resümè nun weise, realistisch oder einfach nur hoffnungsvoll bled?