Weil ich zu früh zum Kaffee beim befreundeten Ehepaar gekommen bin, höre ich in Nebenzimmer noch die letzten Minuten der Videoschalte mit. Claudia als Chefin im Homeoffice erklärt den Mitarbeitern, was sie in als Nächstes zu tun haben – souverän, knapp, keinen Widerspruch erwartend. Ich bin beeindruckt.

„So eine richtige Cis-Frau bist du ja auch nicht.“ sage ich später zu ihr. Claudia nickt. „Ja, ich bin schon aus dem Schulchor rausgeflogen, weil ich keine Tonart halten kann.“
Hier besteht offenbar Aufklärungsbedarf, und da kann ich helfen.
„Cis ist lateinisch und heißt diesseits. Als Cis-Gender werden Menschen bezeichnet, deren Geschlechtsidentität demjenigen Geschlecht entspricht, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde. Eine Cis-Frau ist eine Person, die anatomisch weiblich ist…“

„…das kann ich bestätigen!“ sagt Georg, der gerade den Kaffee bringt und serviert.
Ich fahre fort: „…und die sich auch als Frau fühlt und entsprechend verhält…“
„Ja wenn das entsprechende Verhalten eine Mischung aus Bullterrier und Mathelehrerin ist, dann…“
„Halt mal die Klappe, Schätzchen!“ sagt Claudia, nachdenklich geworden. „Es stimmt schon, mit dem klassischen Weiberkram hatte ich nie was am Hut, kein Interesse an Puppen, hab lieber mit Papa Autos repariert. Aber so gesehen wäre mein Georg auch kein richtiger Cis-Mann, er interessiert sich nicht für Fußball, hasst Baumärkte, räumt freiwillig die Küche auf…“
„…wird aber,“ unterbricht Georg, „für seinen männlich scharfen Intellekt gerühmt. Das ist doch ein alter Hut aus dem Lehrbuch „Psychologie für Anfänger“:jeder Mensch hat in seinem Charakter weibliche und männliche Anteile, oder genauer: Eigenschaften, die von der Gesellschaft als männlich oder weiblich definiert werden. Und es ist gut, dass wir uns heutzutage mal so mal so fühlen und verhalten können, ohne gleich in eine Schachtel gesteckt zu werden.“
„Da irrst du dich,“ sage ich, „die neue „Schachtel“, wie du es nennst, heißt genderfluid! Bei genderfluiden Personen – und vielleicht gehört auch ihr beide dazu - ändert sich die Geschlechtsidentität über einen Zeitraum oder auf bestimmte Situationen bezogen…
„Also Mann am Computer und dann Frau in der Küche, ganz ohne Umziehen und Schminken?“ fragt Claudia.
„So ähnlich.“ Ich versuche das zu erläutern, aber Georg unterbricht schon wieder:
„Wenn ich nicht wüsste, dass diese Ideen aus Amerika kommen, würde ich sagen: typisch deutsch, diese Ordnungswut. Alles muss in eine Kategorie passen, ansonsten müssen neue Unterkategorien erfunden werden, und es wird immer komplizierter.“

„Aber es ist doch ganz einfach,“ widerspreche ich „Bei den genderfluiden Personen kann das Geschlecht zwischen allen möglichen Geschlechtern wechseln, z.B. von männlich zu weiblich, aber auch von weiblich zu nonbinary, von nonbinary zu agender, und so weiter.“
„Mir gefällt die Idee, mal Mann, mal Frau, wie bei dem Wahlmenü im Krankenhaus, heute Vollkost, morgen Diät.“ sagt Claudia unvermittelt. „Ich sehe nur ein Problem: wenn, wie mein schlauer Georg erklärt hat, diese Kategorien männlich und weiblich sowieso nur ein gesellschaftliches Konstrukt sind, also auch fluid, wie kann ich dann noch merken was ich gerade bin – Männlein, Weiblein oder Thermomix?“

Für ein paar Augenblicke herrscht nachdenkliches Schweigen. Die Kaffeekanne ist leer. Claudia wirft ihrem Gatten einen auffordernden Blick zu.
„Nö. Ich bin gerade voll Cis-männlich definiert!“ sagt Georg.
„Ich auch!“ sagt Claudia und lehnt sich gemütlich im Stuhl zurück. „Also?“
Dann schauen beide mich an, und ich habe das Gefühl, jetzt ist es Zeit zu gehen.
Dabei konnte ich ihnen noch gar nicht erklären, dass im Unterschied zu einer genderqueeren Identität sich die (fluide) Identität ändern kann und nicht unbedingt zu jedem Zeitpunkt außerhalb der Geschlechterbinarität zu verorten ist...

Schon an der Türe, höre ich die beiden kichern, ziemlich albern und Cis. Ich fürchte, ich habe hier Zeit verschwendet. Manchen Leuten ist einfach nicht zu helfen.
Alle Texte in Kursivschrift sind Originalzitate aus Internetseiten wie gender-nrw.de oder queer-lexikon.net.