„Da, schau dir das an!“

Sichtbar empört hob A. die Zeitung mit dem Bericht über die letzte Querdenker-Demo in die Kamera. Seit ihre Stammkneipe geschlossen war, verabredeten sich die Freunde auch öfter auf ein Gespräch im Netz.

„Eine 22jährige Gans darf sich wie Sophie Scholl fühlen, verzückte Weiber reißen sich um ein Selfie mit dem falschen Prediger für Instagram, ergraute Eso-Tanten jubeln diesem unerträglich eitlen Doktor zu – wollte der nicht eine eigene Partei gründen? Man kann sich vorstellen, wer ihn wählen würde – überhaupt frage ich mich manchmal, ob es nicht ein Fehler war, Frauen das Wahlrecht zu geben!“

„Psst, nicht so laut!“ Besorgt schaute B. hinüber in die Küche, wo eine zierliche grauhaarige Frau mit einer Rohrzange hantierte. Seine alte Freundin D., die ihm gerade die Spüle reparierte, war eine wehrhafte Feministin, und Freund A`.s letzte Äußerung hätte ihr sicher nicht gefallen. Doch sie schien nichts gehört zu haben und A. war schon bei einem anderen Thema angelangt.

„…..offenbar haben die Verquer-Krakeeler aber auch von uns gelernt!“
„Wie meinst du denn das?“ fragte B. irritiert.
„Na, die Sit-ins der 68ger könnten doch Vorbild gewesen sein für diese Strategie, Orte der Machtausübung besetzen zu wollen!“
„Also hör mal!“ Jetzt war es an B. sich zu empören. „Was wir damals gemacht haben, war fantasievoll und gewaltfrei, weitgehend jedenfalls. Wir haben keine Abgeordneten im Bundestag angepöbelt...“
„Kunststück! Wir hatten ja auch keine Sympathisanten im Parlament.“
„... und wir haben nur im Kampf gegen Nazi-Professoren Vorlesungen gestört, und auch mal Mitstudentinnen mit blankem Busen vorgeschickt..."
„War Adorno ein Nazi-Professor?“
„Jetzt reichts aber!“ B´s Gesicht begann sich zu verfärben, und A. lächelte süffisant.
„Das wird man wohl noch fragen dürfen! Sonst muss ich doch den „Appell für freie Debattenräume“ unterzeichnen, gegen diese systematische Löschung missliebiger Personen und ihrer Meinungen aus der Öffentlichkeit…“

Verärgert ließ B. den immer noch grinsenden A. mit einem Klick verschwinden. Einen Augenblick lang blieb der Bildschirm schwarz, dann erschien eine gruselige Gestalt mit einem blendend weißen Loch in der Mitte, von dem in Folge verschreckte Menschlein angesogen und zerbröselt wurden. Eine pathetische Männerstimme erklärte dazu, dieses Monster sei der neue Cancel-Gott, der dich Abweichler irgendwann erwischen und vernichten wird.

„Deine Spüle ist wieder in Ordnung!“
Fasziniert von dem Video hatte B. nicht bemerkt, dass seine alte Freundin D. schon seit einiger Zeit hinter ihm stand.
„Die beiden Amerikaner, die das fabriziert haben, sind entweder raffinierte Satiriker oder sie haben einfach zu viele Serien mit bösen Aliens geguckt. Aber die Initiatoren des Appells für freie Debattenräume haben sich sogar mal mit diesem Cancel-Quatsch im Netz präsentiert!“

B. hatte das Gefühl, dass es jetzt Zeit für einen beruhigenden Tee wäre. Auf dem Weg in die Küche sah er noch, wie D. nach der Zeitung griff, und während er Wasser aufsetzte, hörte er sie murmeln:
„Selfie mit dem Prediger! Wieso haben wir uns damals so viel Mühe mit der Frauenemanzipation gemacht, wenn diese Weiber jetzt doch irgendwelchen toxischen Kerlen hinterher laufen! Ja, ich wünsche mir einen Cancel-Gott, der solche Hohlfiguren endgültig zerbröselt…“

B. schloss leise die Küchentüre. Er fand in letzter Zeit den Umgang mit Freunden, aber auch seinen Gemeindesrats - und Vereinsmitgliedern ziemlich anstrengend.
Wäre es da nicht eine angenehme Vorstellung, als missliebige Person einfach aus der Öffentlichkeit zu verschwinden? Aber wie sollte er das anstellen? Denn offenbar war es gar nicht so einfach, “gecancelt" zu werden. Es half nichts, gegen junge Klimaschutzaktivistinnen zu giften oder sich freundschaftlich mit rechten Politikern zu präsentieren - im Gegenteil.
Sollte er vielleicht, um "aus der Öffentlichkeit gelöscht" zu werden, sich bei der nächsten Querdenker-Demo als gefühlter Widerstandskämpfer wie Graf von Stauffenberg präsentieren?

Große Hoffnungen auf den gewünschten Erfolg machte er sich nicht.


Nachtrag:

Wer glaubt, der apokalyptische Cancel-Gott sei eine Erfindung der SatirikerInnen des Jammertalboten, kann das Video auf youtube anschauen und die Macher kennen lernen.

https://www.youtube.com/watch?v=H_OO-OOYqw8#action=shareNeuer Link



Wer Zeit und Lust auf eine intelligente Betrachtung zum Thema "Kontaktschuld" hat, dem sei der Beitrag von Beate Meierfrankenfeld empfohlen, dem ich auch den Hinweis auf den Cancel-Gott verdanke.


https://www.br.de/kultur/debatte-cancel-culture-corona-demo-kontaktschuld-100.html